June 2023

Ammanns Wagnis

Othmar H. Ammanns (1879-1965) Brücken haben New York den Weg zur Metropole eröffnet.

275'000 Fahrzeuge überqueren täglich die George Washington Bridge, die den Bundesstaat New Jersey über den Hudson River mit New York City verbindet. Damit ist sie eine der meistbefahrenen Brücken der Welt, unentbehrlich für den Handelsverkehr und für Zehntausende von Arbeitspendlerinnen und -pendler. 220 Unterhaltsarbeiter und 86 Brückenpolizisten beschäftigt der «Gateway to New York»[1]. Gebaut hat ihn ein Schweizer Ingenieur aus einem Dorf bei Schaffhausen.

Anfänge einer Weltstadt

Vielleicht kommt Othmar H. Ammann schon am Tag seiner Einreise in die USA, im Mai 1904, dieser Gedanke, als er auf Ellis Island das übliche Einwanderungsprozedere durchläuft. Das Inselchen ist umgeben vom mächtigen Hudson River, der New York City und Jersey City voneinander trennt.

In den USA ist schon damals alles etwas grösser. In den Strassen New Yorks werden Kutschen schon bald von gelben Taxi Cabs überholt, und die Skyline erhält ihre ersten «Wolkenkratzer»: Flatiron Building, One Times Square, Macy’s Department Store.

In dieser grossen Welt will sich der 25-jährige Ammann mit seinem noch taufrischen Polytechnikum-Diplom als Bauingenieur beweisen. Und was soll ein ambitionierter Bauingenieur schon denken, wenn er einen Fluss sieht, der zwei Städte voneinander trennt? Hier müsste eine Brücke her!

Ein unerhörter Plan

In einem renommierten New Yorker Ingenieurbüro verdient Ammann 50 Dollar im Monat, um Pläne für Eisenbrücken zu zeichnen. Doch die USA sind ein hartes Pflaster: So schnell Ammann Arbeit findet, ist er sie wieder los, wenn die Aufträge stocken. Nach Wanderjahren in Harrisburg, Pittsburgh, Chicago und Philadelphia kehrt er 1912 nach New York City zurück. Er wird erster Assistent im Büro von Staringenieur Gustav Lindenthal, der sich einem dringlichen Problem der Grossstadt annimmt: eben dem Bau einer Brücke über den Hudson River, welche die Insel Manhattan gegen Westen erschliessen würde. Auf der ganzen Welt gibt es noch keine Brücke, die über einen 1000 Meter breiten Fluss reichen würde. Lindenthal skizziert ein gigantisches, zweistöckiges Bauwerk mit 20 Spuren und zwölf Bahnlinien mitten in die Stadt – sowie unerhörten Kosten von fast 200 Millionen Dollar.

Ammann ist mittlerweile erfahren genug, um Genie von Grössenwahn zu unterscheiden. Er hält seinen Mentor dazu an, die Dimension seines Plans zu überdenken – vergebens. In einem Brief in die Heimat schreibt Ammann über Lindenthal: «Er hat mich scharf zurechtgewiesen und beschuldigt, kleinmütig und kurzsichtig zu sein. Er dagegen hätte einen Weitblick von 1000 Jahren.» 1923 macht sich Ammann selbständig, um auf eigene Faust eine Brücke zu planen.

Ammanns Wagnis

Alleine und ohne Einkommen entwirft er während der nächsten zwei Jahre eine Hängebrücke – die einzige Konstruktionsweise, um den Hudson River zu überspannen und dabei nicht unter dem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Zudem stellt Ammann eine These auf, die den Brückenbau revolutionieren wird: Je länger und schwerer Fahrbahn und Aufhängung der Hängebrücke, je höher also die Masseträgheit der ganzen Konstruktion, desto stabiler ist sie gegenüber Schwingungen. Ammann berechnet, dass die Fahrbahnträger trotz – oder eben gerade wegen zunehmender Spannweite der Brücke – nicht zusätzlich versteift werden müssen; eine Praxis, die technisch sehr kompliziert wäre und Ingenieure bis anhin davon abgehalten hatte, längere Brücken zu bauen.

Es ist Ammanns Plan, der 1925 bei den Behörden Gehör findet – auch weil er die Brücke weiter stadtauswärts über den Fluss spannen will, wo weniger Anwohner aus ihren Häusern vertrieben würden. Die mächtige New Yorker Hafenbehörde übernimmt die Bauleitung und stellt Ammann als Chefingenieur ein. 1931 wird die George Washington Bridge mit 1067 Metern Spannweite und sechs Spuren, die Jahre später durch ein zweites Fahrbahndeck ergänzt werden, dem Verkehr übergeben. Ammann hat sowohl den Zeitplan als auch das Budget von 60 Millionen Dollar unterschritten.

«Good night, girls»

Die Brücke mit der längsten Spannweite der Welt bleibt nicht Ammanns einzige Meisterleistung. Später gründet er ein Ingenieurbüro, das zu seiner Blütezeit 250 Angestellte beschäftigt, er berät Ingenieure in San Francisco beim Bau der Golden Gate Bridge, verantwortet den Bau des Lincoln Tunnels unter dem Hudson River und erhält von Präsident Lyndon B. Johnson die National Medal of Science. 1964 wird in New York City die Verrazzano-Narrows Bridge eingeweiht – mit 1298 Metern Spannweite erneut Weltrekord. Und wiederum ein Werk von Othmar H. Ammann.

Zu dieser Zeit wohnt er im 32. Stock eines Hotels mitten in Manhattan. Seine Tochter wird später davon erzählen, wie der Vater jeden Abend ans Fenster tritt und hinabschaut auf seine Stadt. Empire State und Chrysler Building kratzen an den Wolken. Ammans Blick schweift nach Osten, wo die George Washington Bridge leuchtet. Und in den Westen, wo die Verrazzano-Narrows Bridge blinkt. «Good night, girls.»


[1] Gateways to New York – Othmar H. Ammann and his bridges, Dokumentarfilm von Martin Witz, 2018.

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Dieser Artikel wäre Teil der Serie «Schweizer Wirtschaftspioniere» im Magazin «Credit Suisse Values» geworden, das die Kommunikationsagentur Ammann, Brunner & Krobath redaktionell verantwortete. Widmer Kohler lieferte die historischen Porträts solcher Pionierinnen und Pioniere. Wieso «wäre»? Weil der Artikel im Wirbel der CS-Übernahme bislang nicht veröffentlicht wurde.

© 2022 Colin Bätschmann