September 2023

Der (fast) vergessene Grand Prix

Im Oktober 1939 sollte in Zürich-Schwamendingen ein spektakulärer Auto-Grand-Prix stattfinden. Mehr als 80 Jahre später erweckt ein Zürcher Unternehmer das Rennen zum Leben – nicht in Schwamendingen, sondern mitten durch die Innenstadt. Zur Teilnahme braucht es weder Führerschein noch Auto. Wie ist das möglich?

Kurz nach 22 Uhr rollt ein weisser Van mit polnischem Nummernschild auf den Tessinerplatz am Bahnhof Enge. Es ist der 8. Februar 2023. Das Auto fällt auf, und das nicht nur, weil es in dieser kalten Winternacht mitten in der Woche fast das einzige auf der Strasse ist, sondern vor allem, weil auf dem Dach eigenartige Gerätschaften installiert sind. Wären jetzt noch Passanten unterwegs, würden sie diese vielleicht für eine Wetterstation halten – oder für ein Flugabwehrsystem.

Vom Bahnhof Enge geht es hinaus in die Nacht: von der Alfred-Escher-Strasse zum Belvoirpark, Haarnadelkurve, lange Gerade am Mythen- und General-Guisan-Quai, Bürkliplatz – immer im Schritttempo, damit der Laserscanner auf dem Dach die Umgebung in alle Richtungen millimetergenau vermessen und in Daten verwandeln kann. Das Gerät ist eine Spezialanfertigung der polnischen Firma GISPRO aus Stettin, dessen Einsatz von der Stadtpolizei Zürich bewilligt.

Es geht weiter Richtung Bellevue, dann am Limmatquai entlang, nach einer Schleife um das Central Richtung Hauptbahnhof, scharf links in die Bahnhofstrasse, Paradeplatz, dann den Bleicherweg entlang zurück zum Bahnhof Enge. Um 6 Uhr früh ist die rund fünf Kilometer lange Strecke im Kasten. Aber wozu das Ganze?

Das grösste Spektakel

Im Januar 1939 schreibt die Neue Zürcher Zeitung: «Das erste internationale Rundstreckenrennen für Automobile und Motorräder, das in Zürich zur Durchführung gelangt, verspricht der grösste automobilsportliche Anlass und vielleicht überhaupt die grösste sportliche Veranstaltung zu werden, die Zürich je gesehen hat.» Die Sektion Zürich des Automobil-Clubs der Schweiz und die Union Motocycliste Suisse planen ein Spektakel für 11'000 Zuschauerinnen und Zuschauer: den Grossen Preis der Schweizerischen Landesausstellung am 8. Oktober 1939. 

Seit Mitte der 1930er messen sich die besten Rennfahrer Europas auch auf einer Schweizer Strecke: in Bremgarten bei Bern. Zürich hingegen steht nicht auf dem Saisonprogramm. Die Landesausstellung soll das ändern. Auf einer 4,85 Kilometer langen Strecke in Zürich-Schwamendingen, wo es noch für einen Anlass dieser Art Platz gibt und das Publikum Weitsicht hat, sollen Autos und Motorräder in verschiedenen Kategorien antreten. Am Hauptanlass starten Rennwagen der Internationalen Rennformel, die mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 160 Kilometern pro Stunde 70 Runden abspulen. Die Siegesprämie beläuft sich auf 8000 Franken – viel Geld für damalige Verhältnisse.

Ominöse Mission

84 Jahre später laufen in Zürich erneut Vorbereitungen für ein Autorennen. Wenige Wochen nachdem Andreas Püntener mit den Männern aus Stettin durch die Nacht gefahren ist, steht er mit Kamera im Anschlag am Zürcher Paradeplatz. Im Fokus: die Credit Suisse. Diese hat zwar gerade andere Sorgen als den neugierigen Fotografen, der sich vor dem Hauptsitz verschanzt hat. Dennoch will die Security von Püntener wissen, was all die Fotos sollen, die er vom Gebäude schiesst. «Damit entwickeln wir eine virtuelle Rennstrecke durch Zürich.» Diese Erklärung würde sich niemand ausdenken, die Security zieht ab. 

Ein Laserscan aus über 160 Millionen registrierten Punkten, rund 5000 Fotos von 450 Zürcher Gebäuden, von der Limmat und dem See – all das muss später am Computer zu einem 3D-Modell verarbeitet werden, das schliesslich in die Rennsimulationssoftware «Assetto Corsa» eingepflegt werden kann. Dabei wird Püntener eine weitere polnische Firma unterstützen, Sim Traxx, die gleich acht Entwickler auf das Projekt angesetzt hat. Einen virtuellen Stadtkurs zu entwickeln, ist Knochenarbeit, die Digitalisierung eines einzigen Gebäudes dauert rund vier Stunden. Ein Knackpunkt: Die Rennstrecke soll so detailliert wie möglich sein – für maximale Wiedererkennungseffekte – und dennoch störungsfrei befahren werden können, ohne die Rechenleistung des Computers zu überschreiten.

Das Prinzen-Dilemma

Ende August 1939 steht das Teilnehmerfeld für das Hauptrennen im Oktober: Vier Mercedes-Benz, vier Auto Union, zwei Maserati, ein Alfa Romeo und ein Delahaye gehen an den Start. Stars wie Tazio Nuvolari (Auto Union) aus Italien oder der Franzose René Dreyfus (Maserati) haben sich angemeldet. Sogar der dreifache Europameister, der deutsche Superstar und Mercedes-Pilot Rudolf Caracciola, ist mit dabei. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt: «Eine bessere Besetzung haben auch die klassischen Grands Prix dieses Jahres nicht erlebt.»

Ebenfalls im potenziellen Starterfeld – allerdings in einer tieferen Kategorie: Birabongse Bhanudej Bhanubandh, der für English Racing Automobiles (ERA) fährt. Er ist besser bekannt als Prinz Bira, ein Adelsspross aus Siam. Er ist reich, und er ist eitel. Mit seiner ERA-Voiturette will Bira nur unter zwei Bedingungen am Rennen teilnehmen, wie ein Sekretär verlauten lässt: «In case of Mercedes-Benz not coming we are interested, providing we get enough starting money for us to go to Zurich.» 

Dass Prinz Bira kurz darauf beim Training in Reims seinen Rennwagen demoliert, hat auf die Teilnahme in Zürich keinen Einfluss mehr. Die Vorbereitungen auf den Grossen Preis der Schweizerischen Landesausstellung laufen auf Hochtouren, als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfällt – der Beginn des Zweiten Weltkriegs. An Autorennen ist nicht mehr zu denken. Der Grosse Preis wird abgesagt, und der vermeintlich grösste Sportanlass in Zürichs Geschichte gerät für lange Zeit in Vergessenheit ...

Grand Prix Zürich 2.0

... bis sich der Zürcher Unternehmer Tom Mächler seiner erinnert. Der 57-Jährige führt in dritter Generation einen traditionsreichen Handelsbetrieb für Fahrzeugbatterien, die IMAG J. Mächler AG. Daneben hat er sich mit dem ZÜRIRING-Motodrom ein zweites geschäftliches Standbein aufgebaut: In topmodernen Rennsimulatoren lässt er Kundinnen und Kunden über virtuelle Rennstrecken donnern. Nur in seiner Heimatstadt Zürich fehlt ein solcher Circuit. Schade eigentlich, findet Tom Mächler.

Er beauftragt den 3D-Grafiker Andreas Püntener damit, eine Renn-strecke durch die Innenstadt zu entwickeln, und schon bald kommen ihm spezialisierte Firmen aus Polen zu Hilfe. Die Deadline naht: An den Tagen der offenen Tür am 6., 7. und 8. Oktober sowie am 3. und 4. November 2023 wird im ZÜRIRING der Grand Prix Zürich ausgetragen – und das fast vergessene Rennen vor 84 Jahren wird virtuelle Realität werden.

Dank der Virtualität hat sich die Rennstrecke des Grand Prix Zürich vom Vorort Schwamendingen ins weltbekannte Stadtzentrum verlegen lassen, wo Fahrerinnen und Fahrer Zürichs Wahrzeichen bewundern können, wenn sie nicht gerade die Rundenbestzeit anpeilen. Und sie sind zudem noch völlig gefahr- und emissionslos unterwegs.

Ein weiterer Vorteil: Anders als der reale Motorsport ist der virtuelle erschwinglich, beim Grand Prix Zürich gar kostenlos – anmelden kann sich, wer will. Verzichten muss man dennoch auf (fast) nichts: Die Rennsimulation ist so realistisch, dass die virtuellen Tramschienen am Limmatquai bei hoher Geschwindigkeit genauso rutschig sind wie die echten. 

Vorerst will Mächler die Rennstrecke des Grand Prix Zürich exklusiv in seinem ZÜRIRING anbieten. Offen ist, ob die Strecke später an Simulationszentren oder private Gamer auf der ganzen Welt verkauft wird. Jedenfalls ist die Chance intakt, dass dereinst doch noch ein thailändischer Adelsspross im Rennwagen durch Zürichs Strassen brettert – ganz ohne Risiko, in einem Palast, am Computer.

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Dieser Artikel ist Teil einer Rennzeitung, die wir von Widmer Kohler für IMAG/ZÜRIRING konzipiert und geschrieben haben. (September 2023)

© 2022 Colin Bätschmann