September 2023

Jagd am Streckenrand

Im ZÜRIRING-Motodrom gibt es nebst den Rennsimulatoren einen kleinen Schatz zu bewundern: Formel-1-Fotos von Rainer Schlegelmilch. Niemand hat den Rennsport besser in Bildern festgehalten als er. Ein Porträt.

Als Martin Donnelly am 29. September 1990 auf dem Circuito de Jerez mit 250 Kilometer pro Stunde in die Leitplanke schiesst, vergisst Rainer Schlegelmilch für einen Moment, den Auslöser zu drücken. Stattdessen geht er in Deckung. Der sonnengelbe Lotus schlägt knapp vor ihm ein. Karosserieteile und Gummifetzen fliegen durch die Luft.

Erst als sich der Rauch verzieht, sieht Schlegelmilch, wie Donnelly wenige Meter vor ihm auf der Rennstrecke liegt – aus dem Auto geschleudert, aber noch immer an seinen Sitz geschnallt. Die Ärzte sind schon unterwegs, als Schlegelmilch sich fasst, mit zittrigen Fingern nach seiner Canon greift, durch den Sucher blinzelt, scharf stellt und abdrückt.

Retinette besiegelt die Zukunft

Mitten im Geschehen – dort befindet sich Rainer Schlegelmilch sein Leben lang. Geboren wird er 1941 inmitten des Zweiten Weltkriegs. Die Heimat seiner Eltern,Thüringen, wird 1945 von der russischen Armee besetzt. Doch weil die Amerikaner Vater Schlegelmilch als Waffen- und Werkzeugmechaniker nicht in russische Hände fallen lassen wollen, erhält seine Familie nur Stunden vor dem sowjetischen Einmarsch eine Freifahrt samt Gepäck im LKW in die amerikanische Besatzungszone.

​Rainer Schlegelmilch wächst in Frankfurt am Main, also in der «freien Welt» auf – wobei das mit der Freiheit so eine Sache ist. Als seine Berufswahl zu Hause zum Thema wird, drängt ihn der Vater zur Juristerei. Der Filius ist indessen der Fotografie verfallen, seit er 14-jährig eine Kodak Retinette zur Konfirmation geschenkt bekommen hat. Sein grosses Vorbild sind nicht die Väter der bundesdeutschen Republik – wie Adenauer oder Erhard –, sondern der US-amerikanische Porträtfotograf Irving Penn. «Ich war das schwarze Schaf in der Familie», sagt Schlegelmilch heute – sein Bruder wurde Banker.

Der stärkere Wille setzt sich durch: Nach dem Abitur lernt Rainer Schlegelmilch zwei Jahre lang an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie in München das Handwerk, das er ein halbes Jahrhundert lang ausüben wird. Dann tritt der Rennsport in sein Leben.

Der Geist des Motorsports

Es ist das Jahr 1962, als sich der 21-jährige Rainer Schlegelmilch an einer Party in München mit einem jungen Mann anfreundet, der einen Porsche 356 Carrera Cabriolet fährt und Kontakte zum Rennsport pflegt. Ihn begleitet der angehende Fotograf zum 1000-Kilometer-Rennen auf dem Nürburgring – ein spektakuläres Sujet für seine Abschlussmappe, die ihm das Diplom in Fotografie einbringen soll.

Schlegelmilch ist fasziniert von den Rennwägen, die mit 190 Pferdestärken und 270 Kilometer pro Stunde über die Piste rasen, und von den Draufgängern, die diese Boliden steuern. Kriegserfahrene Offiziere sind das, vermögende Playboys, kettenrauchende Ex-Mechaniker auf der Suche nach dem Kick, einer ist Schafhirt aus Schottland – alles Männer, denen die Gier nach Abenteuern ins Gesicht geschrieben steht. Ihnen wird Schlegelmilch fortan folgen.

​Beispielsweise 1963 zum legendären 24-Stunden-Rennen von Le Mans, wo Schlegelmilch nicht recht weiss, welche Kurve die besten Aufnahmen verspricht und rastlos das Renngelände abschreitet. Das zahlt sich aus: Als der Deutsche Edgar Barth seinen Porsche 718 WRS, dem das rechte Hinterrad fehlt, eigenhändig von der Rennstrecke zur Box schiebt, ist Schlegelmilch vor Ort. Als sich der Belgier Willy Mairesse nach einem Unfall in seinem Ferrari 250P mit zerrissenem Overall und blutigem Arm verarzten lässt, ist Schlegelmilch dabei.

Er schiesst keine trockenen Rennbilder wie die Hausfotografen der Motorsport-Zeitschriften, die auf Anweisung ihrer Redaktoren fotografieren. Er ist da, wo sich Emotionen und der Geist des Motorsports einfangen lassen. Mitten im Geschehen.

Lohnenswertes Verlustgeschäft

Reich wird er an diesen Rennwochenenden nicht. Zwar kann er seine Fotos in den renommiertesten Sportmagazinen publizieren, doch die Honorare sind bescheiden.«Ich habe mehr Geld reingesteckt als verdient», sagt Schlegelmilch heute. Aber das scheint ihn nicht zu stören.

Unter der Woche, also zwischen den Rennen, steht er in seinem Frankfurter Studio und ist Werbefotograf für Kunden, die er oftmals durch den Rennsport kennengelernt hat. Damit verdient er sein Geld. Für Martini fotografiert Schlegelmilch Weihnachtsverpackungen, für Ford kreiert er Kalender, Marlboro und West stellt er seine Fotos für Zigarettenwerbung zur Verfügung. Schlegelmilchs Zoom Shots sind besonders beliebte Sujets: Während des Rennens zoomt Schlegelmilch mit Langzeitbelichtung und versucht, nur den Rennwagen – oder sogar nur den Helm des Fahrers – scharf zu kriegen, der Rest ist farbiger, verschwommener Speed.

​Andere Motive fotografiert Schlegelmilch wiederum, weil er sie ganz einfach in seiner Sammlung haben will. Viele Berufskollegen verstehen nicht, weshalb er in Monte Carlo Jahr für Jahr alle Autos an derselben Kurve – der «Schlegelmilch-Kurve» – im identischen Winkel ablichtet. Doch Bilder wie diese machen den Deutschen bekannt – selbst bei Renningenieuren, die nun bequem vergleichen können, wie sich ihr Fahrzeug und die der Konkurrenz über die Jahre in Design und Technik verändert haben.

Und: Als Schlegelmilch in den 1990er-Jahren erste Bildbände herausgibt, kommen ihm seine unkonventionellen Motive zunutze. Statt beliebige Rennfotos abzubilden, stellt er seine Fotos in Beziehung zueinander, kreiert Kategorien und Vergleiche: alle Weltmeister seit den 1960er-Jahren beim Jubel, die witzigsten Fans, der Tankvorgang in den 1970ern und den 2010ern, Steuerräder im Wandel der Zeit, alternde Gesichter berühmter Fahrer, Prominente am Streckenrand. All die Motive, die er seit Jahrzehnten dokumentiert, fügen sich in seinen Büchern wie Mosaiksteine zusammen.

Nah wie kein anderer

Trotz aller Begeisterung – manchmal hadert Schlegelmilch mit der Formel 1, aber nicht etwa dann, wenn er selbst dem Tod von der Schippe springt, wie in Jerez 1990, sondern in Momenten wie 1968, als Jim Clark tödlich verunfallt, der zweifache Formel-1-Weltmeister und ehemalige Schafzüchter aus Schottland. Oder 1970, als Jochen Rindt auf der Rennstrecke stirbt, 1982 Gilles Villeneuve, 1994 Roland Ratzenberger und Ayrton Senna an einem Wochenende. Rainer Schlegelmilch ist auch da immer zugegen. Die Fahrer, die er seit Jahren verfolgt, sind Freunde geworden oder zumindest Bekannte. «Dann stand ich da und begriff nicht, wie ich einen Sport lieben kann, der seine Besten tötet», sagt Schlegelmilch.

​Dennoch bleibt Rainer Schlegelmilch der Formel 1 50 Jahre lang verbunden, bis er 2012 seine Berufskarriere beendet. Zu seinem Archiv gehören mittlerweile 15'000 schwarz-weisse und 600'000 farbige Aufnahmen, bestens sortiert und integriert ins umfangreichste Motorsportarchiv der Welt, Motorsport Images.

Noch heute fährt der 82-Jährige mit seiner Frau im Porsche zu fünf oder sechs Rennen die Saison, allerdings ohne Kamera. Die Auflagen für Formel-1- Fotografen sind strikter geworden und die Sicht auf die Rennstrecke oftmals durch meterhohe Maschendrahtzäune verdeckt – zur Sicherheit aller. Nur den Fotos dient das nicht. So nah wie Schlegelmilch damals wird der Formel 1 kein Fotograf mehr kommen.

An einem Tag im Frühjahr 2021 klingelt Rainer Schlegelmilchs Handy. Am anderen Ende stellt sich Tom Mächler vor. Er sei Fan der Formel-1-Geschichte und vor allem der Fotos von Schlegelmilch. Ausserdem baue er eine Formel-1-Erlebniswelt mit Simulations-Motodrom auf. Schlegelmilch und Mächler verstehen sich auf Anhieb. So sind heute im ZÜRIRING-Motodrom viele grossartige Aufnahmen des Schlegelmilch-Schaffens zu sehen.

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Dieser Artikel ist Teil einer Rennzeitung, die wir von Widmer Kohler für IMAG/ZÜRIRING konzipiert und geschrieben haben. (September 2023)

© 2022 Colin Bätschmann