May 2023

Die Feder so scharf wie ein Skalpell

Dr. Jakob Laurenz Sonderegger (1825-1896) gilt als Gründervater des Kantonsspitals St.Gallen. Mit Herz, Verstand und spitzer Feder brachte er die Politik auf seine Seite.

Arroganz, Lügen und Kantönligeist – Dr. Jakob Laurenz Sonderegger schwingt den rhetorischen Zweihänder, als er 1865 die Streitschrift «Spitalfrage im Kanton St.Gallen» zu Handen der Regierung und des Grossen Rates verfasst:

«Wir dürfen nicht vornehm an dem Obdachlosen, an dem erkrankten Dienstboten, Handwerksgehilfen und Taglöhner, an dem Verunglückten und dem armen Krankenvorübergehen und achselzuckend sagen: Ihr habt es gut genug. Doch wäret ihr in Zürich oder im Bündnerland liegen geblieben, so ginge es euch und uns besser. Wir haben eben kein Bedürfnis nach einem Krankenhause!»

Seit Jahren fordern der Mediziner Sonderegger und einige Arztkollegen ein Kantonsspital für St.Gallen, doch die Politiker wollen davon nichts wissen. Warum auch? Viele von ihnen werden wie andere gutbetuchte Ortsbürger im städtischen Bürgerspital vorzüglich behandelt. Im kleinen Fremdenspital hingegen stirbt jeder zweite Patient an Wundbrand. Sieht so die Nächstenliebe aus im frommen St.Gallen?

Ein Leiden folgt dem nächsten

Sonderegger, Sohn einer angesehenen Beamtenfamilie aus Balgach im Rheintal, hat als kränkliches Kind am eigenen Leib erfahren, was eine rückständige medizinische Versorgung bedeutet. Er ringt mit einer Diphtherie, einer tödlichen Infektionskrankheit, die er zwar überlebt, ihm aber nachhaltig das Reden erschwert.

Erst disziplinierte Sprachübungen während des Medizinstudiums in Zürich machen ihn zum Redekünstler, sodass er sogar zum Präsidenten des Studentenvereins gewählt wird.

Der Arzt Sonderegger bleibt aber stets auch ein Kranker, kämpft im Verlauf seines Lebens mit einer Lungen-Tuberkulose, mit einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung, mit einem schwachen Herz, Bronchitis und weiteren Gebrechen.

Mitten in stürmische Zeiten

Neben seinem persönlichen Leidensweg sind es politische und soziale Erfahrungen, die Sonderegger prägen.

Im Herbst 1848 saugt der 23-jährige Medizinstudent im Wiener «Allgemeinen Krankenhaus» die Eindrücke eines Grossbetriebs in sich auf, als im Kaisertum die Revolution ausbricht. Von den hunderten fremden Ärzten nehmen fast alle Reissaus – Sonderegger bleibt, ob aus Pflichtbewusstsein oder Abenteuerlust. Jedenfalls hat er mit der Pflege von Verwundeten alle Hände voll zu tun.

Ein Jahr später reist er nach Prag, nur um sich inmitten einer Cholera-Epidemie wiederzufinden – eine Armutskrankheit, verbreitet durch verschmutztes Trinkwasser. Sie verschafft dem Studenten Einblick in neue medizinische Welten, doch sie konfrontieren den jungen Mann auch mit viel Leid.

Sonderegger kann alles

In seiner Praxis in Balgach, Altstätten und St.Gallen erwirbt sich Sonderegger den Ruf, seine Patientinnen und Patienten unabhängig von der Dicke ihrer Geldbeutel mit Sachverstand und Empathie zu behandeln. «Menschlich bedeutungsvoll ist alles, wenn man nicht Maschinen-Reparateur, sondern Arzt sein will», schreibt er in seiner Biografie.

Andererseits macht er sich als Allgemeinmediziner, als Spezialist in der Gesundheitspflege, als Hygieniker, als Internist, Chirurg und Frauenarzt einen Namen – kurzum: Sonderegger kann alles. Und er schreibt mit spitzer Feder über Gesundheit und Politik, wird Kantonsrat, «um ein bisschen am Steuerruder des Staates mitzuzerren», steht dem kantonalen Ärzteverein vor, später der Schweizerischen Ärztekommission, wo er den Bundesrat in gesundheitspolitischen Fragen berät.

Auch sein sprachgewaltiger Einsatz zugunsten eines Kantonsspitals in St.Gallen zeigt Wirkung. 1873 wird das einstige Fremdenspital, das jetzt Gemeindespital heisst, erweitert und zum Kantonsspital St.Gallen erhoben. Sonderegger wird zur ersten Aufsichtsperson gewählt, oder wie er es nennt: zum Vermittler zwischen «Staatswagen und Krankenwagen».

Im Juni 1896 besucht Sonderegger «sein» Kantonsspital ein letztes Mal – wegen einer Erkrankung im Magen-Darm-Trakt. Die Gastroenterostomie, also die operative Verbindung von Magen und Dünndarm, gelingt in diesem nun hochmodernen Spital ohne Schwierigkeiten. Nur das Herz des 71-Jährigen macht nicht mehr mit. Der Gründervater des Kantonsspitals St.Gallen stirbt am 20. Juni 1896.

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Dieser Artikel ist Teil des Jubiläumsmagazins für das Kantonsspital St.Gallen, ein Werk von Widmer Kohler. (Januar 2023)

© 2022 Colin Bätschmann