April 2023

TriLock: Die richtige Richtung

Medartis dringt in die Hand- und Handgelenkchirurgie vor – mit einer kleinen Sensation: einer Verblockungstechnologie, die beim Verschrauben von Implantaten Flexibilität und Stabilität miteinander vereint.

Ein Blick auf die Uhr. Der Anruf aus Bad Neustadt lässt auf sich warten. Ein hastiger Schluck Tee, ein Blick auf die Uhr. Die OP müsste längst vorbei sein. Ein kurzer Schwatz mit dem Kollegen, ein Blick auf die Uhr. War all die Mühe vergebens? Ein Blick auf das Telefon, das nicht klingeln will. Entwicklungsingenieur Hermann Zeuner schwant Böses.

Januar 2002, eineinhalb Jahre zuvor. Nachdem sich Medartis in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie einen Namen gemacht hat, will der Verwaltungsrat den nächsten Schritt wagen: den Vorstoss in die Hand- und Handgelenkchirurgie. Er lässt den Entwicklungsingenieuren unter Leitung von Joachim Pfefferle freie Hand, damit diese nicht nur passende Schrauben und Platten konstruieren, sondern möglicherweise auch bislang nicht adressierte technologische Herausforderungen angehen – wie die Frage nach einer optimalen Verblockung der Schrauben.

Speziell bei mehrteiligen Frakturen, wie sie im Handgelenk häufig vorkommen, muss das Implantat die Fraktur überbrücken und die Belastung über die Frakturzone umleiten. So wird die Frakturstelle entlastet, und der Knochen wächst zusammen. Dieses Konstrukt ist aber nur dann stabil, wenn die Schraube fest in der Platte verankert, also winkelstabil ist. Lässt sich die Schraube im Schraubenloch vor der Verblockung nach allen Seiten ausrichten und so optimal im Knochen platzieren, ist das System zudem multidirektional. Das Problem ist: Bislang ist es niemandem gelungen, die beiden scheinbaren Gegensätze – Flexibilität in der Ausrichtung und winkelstabile Verblockung – in einem System aus hartem Material zu vereinen.

Hermann Zeuner und Matthias Walter nehmen sich der Herausforderung an, etwas später stösst auch Dirk Thiel dazu. Sie skizzieren, berechnen, verwerfen – bis Hermann Zeuner eines Tages einen Katalog durchblättert, in dem verschiedene Befestigungsmittel präsentiert werden. Darin entdeckt er einen Schnellverschluss, wie er ihn noch nie gesehen hat. Zur Fixierung werden die beiden Teile des Verschlusses gegeneinander rotiert und verklemmt.

«Reibschluss» wäre auch eine denkbare Lösung für Medartis. Die Schraube soll sich im Schraubenloch verkeilen – doch wie kann dieses zylindrische Prinzip auf eine kugelige Form übertragen werden? Mit einem Schweizer Taschenmesser und der IKEA-Knetmasse seiner Tochter formt Hermann Zeuner allererste «Prototypen» eines potenziellen Schraubenkopfs. Nach langem und nervenaufreibendem «Trial and Error» ist die Reibschlusslösung perfekt: Drei Keile, die seitlich aus dem Schraubenkopf herausragen, sorgen für Reibung im Plattenloch mit seiner entsprechenden Gegenkontur. Dutzende Stunden hat es gebraucht, um den Kurvenradius der Keile zu berechnen, mit dem sie die optimale Reibung erzeugen: nicht zu viel, nicht zu wenig. Die Schraube lässt sich im Plattenloch 15 Grad in alle Richtungen schwenken, wobei sich der Winkel bis zu drei Mal korrigieren und wieder verblocken lässt – in der Theorie. Denn bis die erste Schraube zur Anwendung kommt, vergehen nochmals Wochen. Die eigenwillige TriLock-Form präzise auf der Dreh- und Fräsmaschine zu produzieren, beschert dem Leiter Prototypenbau, Peter Scheuble, einige Nachtschichten. Er macht aus den verrückten Ideen der Entwickler Handfestes.

20. Mai 2003. Das Telefon klingelt. Endlich. Hermann Zeuner hebt sofort ab. Am anderen Ende der Leitung ist Matthias Walter, der im Operationskittel vom Rhön-Klinikum in Bad Neustadt aus anruft. Noch vor einer halben Stunde stand er im Operationssaal und sah mit Schweissperlen auf der Stirn dabei zu, wie Prof. Dr. Hermann Krimmer erstmals die TriLock-Technologie am Patienten angewendet hatte. «Es hat perfekt funktioniert», sagt er. Hermann Zeuner hastet durch die Gänge und verkündet dem Projektteam die frohe Botschaft – denn TriLock ist das Verdienst aller!

Nachdem sich die Technologie auch in weiteren Kliniken bewährt hat, bringt Medartis TriLock im Herbst 2004 in der neuen Produktlinie APTUS für die Hand und den distalen Radius auf den Markt. Die Technologie kräftigt Medartis’ Ruf als Innovationsführerin und verhilft dem Start-up zum endgültigen Durchbruch in der Osteosynthese.

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Dieser Artikel ist Teil des Medartis-Jubiläumsbuchs, ein Werk von Widmer Kohler (November 2022).

© 2022 Colin Bätschmann