May 2023

Ein Unterhemd für Hollywood

Was haben Halle Berry, Sylvester Stallone und Harald Schmidt gemeinsam? Unterwäsche von Zimmerli. Erfunden hat sie eine Aargauerin im 19. Jahrhundert.

Paris, Champ-de-Mars, 1878. Der Eiffelturm steht noch nicht, als die Fremde mit den wachen Augen das Marsfeld betritt. Dennoch dürfte sie vor Ehrfurcht erstarren: 77 Hektare misst das Ausstellungsgelände, das vor ihr liegt, eine riesige Palastkuppel markiert den Haupteingang. Und davor steht eine zehn Meter hohe Büste, der spätere Kopf der New Yorker Freiheitsstatue. Das Beste aber ist: Die Schweizerin aus dem 2000-Seelen-Städtchen Aarburg ist nicht als eine der 16 Millionen Besucherinnen und Besucher an die Weltausstellung gereist, sondern als Ausstellerin.

«Camisoles suisses», «Schweizer Unterkleider» wird Pauline Zimmerli-Bäurlin der Weltöffentlichkeit präsentieren: feinste, anschmiegsame Unterhemden mit unverwechselbarem Rippenmuster, das durch eine Verstrickung mit abwechslungsweise linker und rechter Masche entsteht.

Aber wen interessiert schon Unterwäsche, wenn ein paar Stände weiter erstmals eine elektrische Glühbirne präsentiert wird? Die Weltausstellung ist nach einer nervenaufreibenden Gründungszeit der internationale Härtetest für Pauline Zimmerli-Bäurlins Unternehmen, das sie sieben Jahre zuvor aus der Not heraus gegründet hat.

Der Notfallplan

Damals, im Jahr 1871, zwingt die Erfindung von synthetischer Anilinfarbe den Aarburger Rotfärber Johann Jakob Zimmerli, den Ehemann von Pauline Zimmerli-Bäurlin, zum Konkurs. Die bürgerliche Familie mit sieben Kindern – sechs davon aus der ersten Ehe des Gatten – brauchen dringend eine neue Einkommensquelle und findet sie in einer Zeitungsannonce, welche die erste Strickmaschine der Welt zum Verkauf anpreist. 36 Paar Strümpfe pro Tag soll das ambitionierte «Frauenzimmer» mit dieser Erfindung aus Amerika täglich fertigen können. Wenig später steht die Maschine bei den Zimmerli-Bäurlins, wobei die Handarbeitslehrerin Pauline Zimmerli-Bäurlin das Tagessoll dank ihres Geschicks bei weitem übertrifft.

Zimmerlis-Bäurlins Socken und Strümpfe verkaufen sich dank hervorragender Qualität bestens, so dass die Familie in weitere Strickmaschinen und Angestellte investiert. In einer Zeit, in der die bürgerliche Frau einen festen Platz in der Gesellschaft besetzt – am Herd und am Kinderbett – mausert sich die einstige Hausfrau zur Unternehmerin. Das Blatt scheint sich gewendet zu haben für die Familie, bis der Hausvater stirbt.

Die wegweisende Idee

Nun hat sich die Witwe Pauline Zimmerli-Bäurlin um ihr Kleinunternehmen und sieben Kinder zu kümmern. Zudem erhält sie Konkurrenz: In den folgenden Jahren entwickelt sich die Feinstrickerei in der Schweiz zu einer bedeutenden Exportbranche. Wie kann sie die Konkurrenz überflügeln?

Seit Längerem tüftelt sie an einer Weiterentwicklung ihrer Flachstrickmaschine, mit der sie nicht nur Socken und Strümpfe, sondern auch kunstvollere, luxuriösere Produkte stricken kann. Pauline Zimmerli-Bäurlin denkt an gerippte Stoffe, also solche, bei denen abwechslungsweise eine rechte und eine linke Masche gestrickt wird, wodurch ein auffälliges Rippenmuster entsteht. Solche formstabilen, elastischen und bequemen Stoffe aus atmungsaktiver Baumwolle wären eine absolute Neuheit auf dem Markt und besonders geeignet für enganliegende, wärmende Unterwäsche. Zur Erinnerung: Männer befestigen sich ihre weiten Unterhosen zu diesem Zeitpunkt meist mit einer Lasche an den Hosenträgern.

Zimmerli-Bäurlin entwirft eine 2-Nadel-Strickmaschine und lässt sie in den USA produzieren. Ihre Erfindung legt den Grundstein für eine gänzlich neue Branche: die Trikotindustrie, die enganliegende Kleidungsstücke aus elastischer Maschenware herstellt. Noch heute setzen die grossen Unterwäschehersteller auf dieselbe Stricktechnik, um ihre Ware in Fein- oder Doppelripp zu produzieren.

Die Zimmerlis produzieren jetzt im Akkord vornehmlich luxuriöse Unterwäsche und Pullover. 1878 gelingt an der Pariser Weltausstellung der internationale Durchbruch. Der erste ausländische Vertreter, das legendäre Pariser Warenhaus «Au Bon Marché», nimmt Zimmerli ins Sortiment auf.

Nach sieben nervenaufreibenden Gründerjahren kann Zimmerli-Bäurlin erstmals aufatmen. Sie hat es geschafft. Und mit ihrem Stiefsohn Adolf und ihrem Sohn Oscar steht sogar die Nachfolgegeneration parat.

1888 übernimmt Oscar Zimmerli die Aktienanteile seines Stiefbruders und gründet die «Strickereien Zimmerli & Co. AG». Im Folgejahr errichtet er ein neues Fabrikgebäude in Aarburg. Mutter Pauline zieht sich aus der Geschäftsleitung zurück, bleibt der florierenden Firma vor allem in technischen Fragen verbunden. Am 8. Mai 1914 stirbt sie – just an dem Tag, an dem der amerikanische Kongress den Muttertag zum nationalen Ehrentag erklärt.

Hollywood trägt Zimmerli

An den Weltausstellungen 1889, 1899 und 1910 gewinnen die feinen Strickprodukte von Zimmerli jeweils die Goldmedaille. Auch das krisengeschüttelte 20. Jahrhundert übersteht das Unternehmen weitgehend unbeschadet. Heute werden Zimmerli-Produkte an den exklusivsten Adressen weltweit verkauft – von Zürich über Moskau bis nach Macau. Und produziert wird nach wie vor ausschliesslich in der Schweiz. 300'000 Stück Unterwäsche verkauft das Unternehmen mit seinen 85 Mitarbeitenden im Jahr, wobei ein Unterhemd bis zu 100 Franken kostet.

Hin und wieder bekommt man so ein Edelprodukt aber auch günstiger zu Gesicht: Der Legende nach trägt Sylvester Stallone 1976 als Rocky zum ersten Mal ein Zimmerli-Unterhemd auf der Kinoleinwand. Später tun es ihm Stars wie Halle Berry («Gothika»), Jamie Foxx («Ray») oder Joaquin Phoenix («Walk the Line») gleich. «The World’s Finest Underwear» ist längst in die Kulturgeschichte eingegangen.

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Dieser Artikel ist Teil der Serie «Schweizer Wirtschaftspioniere» im Magazin «Credit Suisse Values», das die Kommunikationsagentur Ammann, Brunner & Krobath redaktionell verantwortete. Widmer Kohler lieferte die historischen Porträts solcher Pionierinnen und Pioniere.

© 2022 Colin Bätschmann